Danke, dass ihr heute mit uns hier seid, dass ihr entgegen der antipalästinensischen Hetze standhaft geblieben seid und uns als palästinensischen und palästinasolidarischen Feminist*innen Sichtbarkeit ermöglicht. Denn um nichts anderes geht es bei der Entscheidung, auch palästinensische Fahnen zuzulassen: um Sichtbarkeit, um das Ende des Schweigens.
Wir verstehen, dass der Kampf um Befreiung international ist und er ist feministisch, denn Siedlungskolonialismus, Krieg, Naturzerstörung und Knäste sind Ausdruck patriarchaler Gewalt.
Wir wissen, dass der palästinensische Kampf als feministisch und als intersektional verstanden werden muss: Geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt sind ein zentrales Element des Siedlerkolonialismus, der Apartheid und des Völkermords. Diese Systeme sind untrennbar miteinander verbunden und stützen sich auf Patriarchat, globale weisse Vorherrschaft und Kolonialismus.
Im ganzen Land zerstört Israel palästinensische Häuser, vertreibt Palästinenser*innen, unterwirft palästinensische Gefangene, darunter auch Frauen, queere Menschen und Kinder, systematischer sexueller und körperlicher Misshandlung und Folter und kontrolliert palästinensische Körper, Sexualität, reproduktive Rechte und das Familienleben.
Wir betonen heute die Rolle der palästinensischen Frauen bei der Bekämpfung des Kolonialismus von der Zeit des britischen Mandats bis heute.
Wir betonen, dass dieser Widerstand meist durch die Erfindung und Umsetzung von Alternativen zu seiner Gewalt stattfand.
Wir wissen das, denn sie sind unsere Großmütter, Mütter und Töchter, unsere Cousinen und Tanten, die Großfamilien zusammenhalten, die Freiheitskämpfer, die Organisatoren und Unterstützer von Aufständen sind, die politische Gefangene sind, die Hunderttausende Held*innen sind, die außerhalb ihres intimen Kreises unbekannt sind, Sie sind jedoch auch bekannte Dichterinnen, Schriftstellerinnen, Gelehrte und Anwältinnen, die unser kulturelles und soziales Gedächtnis sind:
Wir wissen, dass der Widerstand der palästinensischen Frauen gegen fremde Übergriffe kein neues Phänomen ist.
Wir nehmen seit den frühen 1920er Jahren an antikolonialen Protesten teil, als klar wurde, dass das britische Mandat die Enteignung von Palästinenser*innen erleichtern würde.
In den späten 1930er Jahren, als britische Truppen das militante Dorf Baqa al-Gharbiyya stürmten, unsere Männer zusammen trieben und abführten, stürmten unbewaffnete palästinensische Frauen die Kaserne, in der die Männer festgehalten wurden, und erreichten ihre Freilassung.
Jahrzehnte später, unter israelischer Besatzung, waren es wir Frauen, die maßgeblich Volkskomitees organisierten, die die erste Intifada unterstützten. Dies war eine Massenmobilisierung, um die Anerkennung des Rechtes der Palästinenser auf Selbstbestimmung zu erlangen.
Unsere Frauen gründeten und besetzten mobile Gesundheitskliniken, sie unterrichteten in Gaza im Untergrund weil Israel die Schulen zur kollektiven Bestrafung der aufständischen Palästinenser schloss, sie bereiteten Essen zu und versorgten die Jugendlichen an den Frontlinien.
Ihre vorausschauende Führung an der Basis wurde nach dem Osloer Abkommen von 1993 durch die bürokratische Zersplitterung marginalisiert und die Rückkehr der einzig männlichen palästinensischen Politiker begann; jene, denen es eindeutig an Phantasie fehlte und fehlt, um uns aus der repressiven Bürokratie des sogenannten „Friedensprozesses“ herauszuführen. Es ist uns daher unmöglich, den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Intifada nicht zu betonen, insbesondere in Bezug auf die Geschlechter, ein Unterschied, der nicht zuletzt auf die Schaffung der verräterischen Palästinensischen Autonomiebehörde im Jahr 1994 zurückzuführen ist.
Wir betonen, dass wir Frauen auch heute noch an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, die geschlechtsspezifische Gewalt des Siedlerkolonialismus und die restriktiven kulturellen Normen zu bekämpfen. Nach einer Serie von Femiziden im Jahr 2019 organisierten sich Feminst*innen von Rafah über Ramallah bis Haifa als Tal’at Bewegung unter dem Motto: Es gibt kein freies Land ohne freie Frauen. Sie erklären Tal’at als Teil einer revolutionären feministischen Tradition. Das bedeutet unsere feministische Bewegung ist geprägt von der Erfahrung von mehr als sieben Jahrzehnten israelischer Siedler- und kolonialer Gewalt. Als palästinensisches Volk werden wir unserer grundlegendsten Rechte und Bedürfnisse beraubt und sind gleichzeitig in unserer kollektiven Entwicklung und unserem Widerstand gelähmt. Diese Realität zwingt uns, Gewalterfahrungen – in ihren verschiedenen Formen – als ein soziales und politisches Problem zu analysieren, das an der Wurzel und kollektiv, als Gesellschaft angegangen werden muss.
Wir betonen, dass Israel nicht nur eine direkte Bedrohung für unser Leben und die soziale Reproduktion darstellt, sondern strategisch darauf hinarbeitete, Palästinenser*innen in sozialer, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zu zerschlagen und zu fragmentieren, um seine Kontrolle über uns zu festigen.
Wir betonen, dass der Entzug der gemeinsamen Handlungsfähigkeit der palästinensischen Gemeinschaften einher geht mit der Stärkung der patriarchalischen Strukturen der Verwandtschaft. Besonders akut ist dies im Fall der Palästinenser*innen auch in Israel sichtbar, wo sich zwischen der israelischen Regierung und den Oberhäuptern der Großfamilien eine begünstigende Beziehung entwickelt hat. Im Rahmen dieser Beziehungen überträgt der Staat diesen Männern die Befugnis, Angelegenheiten zu regeln, die als „innergemeinschaftliche“ Angelegenheiten gelten. So hat die israelische Polizei beispielsweise flüchtende Frauen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie missbraucht werden, an ihre Verwandten und Ehegatten zurückgeschickt, also an dieselben Personen, vor denen sie Zuflucht gesucht haben.
Die Polizei, wie Frauen auf der ganzen Welt wissen, ist weder unser Beschützer noch unser Verbündeter, Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern besonders dann, wenn sie Teil einer kolonialen Struktur ist, die Palästinenser*innen als zu überwachende und zu kontrollierende Subjekte betrachtet, sei es die israelische Polizei oder die von den Amerikanern ausgebildete Polizei der Palästinensischen Autonomiebehörde, die in erster Linie die Aufgabe hat, Palästinenser*innen im Interesse unseres Kolonisators zu überwachen und handlungsunfähig zu machen.
Wir betonen die systematische Lähmung der palästinensischen wirtschaftlichen Entwicklung und die Umwandlung der Palästinenser*innen, einschließlich der Frauen, in billige und ausbeutbare Arbeitskräfte. All dies gipfelt in einem vielschichtigen System der Gewalt, in dem die Machtverhältnisse in ihren geschlechtsspezifischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Formen intensiviert und reproduziert werden und sich direkt auf das Leben innerhalb unserer Gemeinschaft auswirken.
Wir halten heute hier gemeinsam im antikolonialen Block das Vermächtnis der Solidarität zwischen palästinensischen, schwarzen, indigenen, Feministinnen des Globalen Südens, der internationalen Arbeiterklasse und queeren Gemeinschaften aufrecht, die Seite an Seite in antikolonialen, antikapitalistischen und antirassistischen Bewegungen weltweit gekämpft haben.
Dies steht im Gegensatz zu imperialistischen, neoliberalen feministischen Traditionen: Jene die an anderer Stelle in Leipzig heute verkünden; dass sie sich selbst Blumen kaufen können und dabei weiter feministische Diskurse und an den Haaren herbei gezogene Antisemitismusvowürfe gegen Palästinenser*innen und andere marginalisierte Gemeinschaften einsetzen, indem sie bewusst die strukturellen Formen geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt auslassen. Liberale Feminismen stützen sich auf orientalistische Diskurse, um die kollektiven Bestrebungen palästinensischer Frauen und ihrer Mitstreiter*innen zum Schweigen zu bringen und zu untergraben, und tragen so zu einer verstärkten politischen Unterdrückung bei, die die freie Meinungsbildung und ͍⎼äußerung über Palästina und die palästinensische Befreiung kriminalisiert. Ihr kolonialer Feminismus stellt palästinensische Frauen als hilflose Opfer dar, die vor ihrer eigenen Kultur,
Gesellschaft und Religion gerettet werden müssen, während er sie gleichzeitig als entbehrlich, bedrohlich und des Todes würdig darstellt.
Seit dem 7. Oktober erleben wir das Wiederaufleben liberaler, orientalistischer und kolonialer feministischer Narrative durch westliche Medien und die Gesellschaft: In diesem Zusammenhang werden palästinensische Männer kollektiv als brutale Aggressoren und Sexualstraftäter sowie als lieblose Väter dargestellt, die ihre Kinder als menschliche Schutzschilde benutzen. Palästinensische Jungen und Männer wurden pauschal als blutrünstige Terroristen, Vergewaltiger und Wilde dargestellt, um den Völkermord und die kollektive Bestrafung von Palästinenser*innen zu rechtfertigen. Tausende palästinensischer Jungen und Männer in israelischen Gefängnissen und Haftanstalten extremer körperlicher und sexueller Folter ausgesetzt. Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie wir diesen gegenwärtigen Völkermord und die breitere Struktur der israelischen Siedler- und kolonialen Gewalt als in geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt und Unterdrückung verwurzelt verstehen. Die Perversion kennt dabei kein Ende. Zeugenaussagen und Dokumentationen, die diese Verstöße und Belästigungen belegen, sind alles andere als neu; es herrscht jedoch selektives Interesse an wem diese Gewalt stattfindet. Wir verweigern uns diesem Spiel der selektiven Betrachtung und gegeneinander Ausspielen von Betroffenen dieser Gewalt; fordern nach wie vor Aufklärung.
Wir Palästinensische und Palästinasolidarische Feminist*innen lehnen jede Aneignung feministischer und queerer Diskurse, sogenanntem pinkwashing; ab, die dazu benutzt werden, Palästinenser*innen zu entmenschlichen, die anhaltende Gewalt in Palästina zu rechtfertigen und unseren politischen Aktivismus zu Hause sowie in der Diaspora zu entlegitimieren und zu unterdrücken.
Israel preist sich fälschlicherweise als sicherer Hafen für Frauen und LGBTQ-Gemeinschaften an. Ihre Propaganda stellt uns als gewalttätig und regressiv dar, obwohl wir routinemäßig, wahllos und ohne Rücksicht auf unsere körperliche Autonomie vergewaltigt, misshandelt und ermordet werden.
Wir Palästinenser*innen bejahen weiterhin das Leben angesichts der andauernden Nakba (Katastrophe), die sich in der tödlichen Abriegelung und ethnischen Säuberung Gazas, der militärischen Besetzung im Westjordanland, der rechtlichen Einstufung als Bürger zweiter Klasse im Siedlerstaat, dem Exil in Flüchtlingslagern und in der globalen Diaspora und der Verweigerung des Rechts auf Rückkehr in unsere Heimat äußert. Unsere Befreiung ist ein Akt der Liebe, eine radikale Neuplanung einer Welt, die auf Würde, gleichen Rechten und Freiheit für alle beruht. In Gedenken an unsere Menschen in Gaza und unsere Vorfahren. Free Free Palestine.